Samstag, 20. Juni 2020

Blade Runner



USA, 1982. Regie: Ridley Scott

Das Los Angeles des Jahres 2019 (ja, die Zeit hat den Film tatsächlich bereits überholt) ist ein riesiges Chinatown, ein Moloch ohne Grenzen und ohne Sonnenlicht oder sonstige Anzeichen von Natur. Menschen, Gebäude, Fahrzeuge überall, ein wildes Gemisch aus Sprachen, Identitäten. Die Menschheit hat damit begonnen, andere Planeten zu kolonialisieren. Um die gefährliche Aufbauarbeit zu übernehmen wurden Replikanten entwickelt, Humanoiden, die so perfekt sind, dass sie vom Menschen nicht mehr zu unterscheiden sind - es sei denn, man blickt in ihr seelisches Innenleben. Sie verfügen zwar über Emotionen und Erinnerungen, doch deren Künstlichkeit lässt sich zumindest mit Hilfe von gezielten Untersuchungen und Befragungen erkennen. Generell aber beginnt der Unterschied zwischen Mensch und Replikant zu verwischen. Nach mehreren blutigen Rebellionen von Replikanten werden sie auf der Erde gänzlich verboten und dürfen nur noch in den Kolonien eingesetzt werden. Nach einer erneuten Rebellion gelangt eine kleine Gruppe von Replikanten auf die Erde – wo bereits Jagd auf sie gemacht wird. Sogenannte Blade Runner sollen sie eliminieren, ihre Exekution wird „retirement“ genannt, also Pensionierung. Mit der Hilfe der Firma Tyrell, die die Replikanten produziert hat, macht sich der Blade Runner Rick Deckard (Harrison Ford) auf die Suche nach den sechs Replikanten, die von Roy Batty (Rudger Hauer) angeführt werden. Bei Tyrell macht Deckard Bekanntschaft mit Rachel (Sean Young), und verliebt sich in sie – wissend, dass sie ebenfalls ein Replikant ist. Sie selbst weiß es allerdings noch nicht, sie hält zunächst die Erinnerungen, die man ihr eingepflanzt hat, für real. Während Deckard die flüchtigen Replikanten einen nach dem anderen stellt und „pensioniert“, erkennt Rachel allmählich ihre wirkliche Natur. Der Höhepunkt des Films ist der Zweikampf zwischen Deckard und Batty, zwischen Mensch und Replikant. Es ist ausdrücklich kein Kampf zwischen Mensch und Maschine, den Ridley Scott hier inszeniert, sondern zwischen Mensch und Übermensch.

Es sind ganz klassische Themen und Motive, die sich durch den ganzen Film ziehen: Schöpfer und Schöpfung, Prometheus, Titanen, und der Kampf der gefallenen Engel. Nicht ganz zufällig legt das exzellente Drehbuch Batty immer wieder Zeilen in den Mund, die stark an den Luzifer aus Miltons Versepos „Paradise Lost“ erinnern. Immer wieder wird die Begegnung des künstlich erschaffenen Wesens mit seinem Schöpfer inszeniert, das verleiht „Blade Runner“ einen unwiderstehlichen existenzialistischen Subtext. Assoziationen an Collodi und seine beseelte Puppe Pinocchio gibt es zuhauf, und nicht nur darin erscheint Ridley Scotts Meisterwerk als ein Vorbild für Kubricks/Spielbergs Schöpfungs-SciFi „Ai – Artificial Intelligence“.  Anders als Spielbergs Variante des Themas versinkt Scotts Film nicht im Gefühlskitsch, dafür sorgt schon der erzählerische Rahmen, den Scott gewählt hat. „Blade Runner“ ist ein Science Fiction, der in der Sprache eines Hard-Boiled Krimis erzählt ist, ein Film Noir im SciFi-Gewand. Deckard ist im Grunde eine Philip Marlowe-Figur, und der Großstadtdschungel wird hier ersetzt durch den futuristischen Moloch. Vermutlich rührt daher die Entscheidung des Studios, dem Film eine Voiceover-Narration zu verleihen, wie man sie aus zahlreichen Film Noir Klassikern kennt. Dass Ridley Scott damit nicht glücklich sein konnte, liegt nahe - normalerweise benutzt man ein Voiceover, um jene Elemente einer Geschichte zu erzählen, die der Regisseur visuell nicht umzusetzen vermag. Tatsächlich hatte die Narration aber eher einen atmosphärischen Effekt, sie markierte den leicht melancholisch-lapidaren Ton des Films. Ohne die erzählende und erklärende Stimme (sie wurde im Director's Cut entfernt) gewinnt der Film natürlich an Ambivalenz, und das tut ihm gut.

„Blade Runner“ ist ein großartiger Film, voll von Bildern und Ideen, diszipliniert ohne jede Langatmigkeit oder Weitschweifigkeit inszeniert. Nachdem er zunächst im Kino gefloppt ist, zählt er längst zum Kanon des Genrefilms. Er ist sicherlich einer der besten des Regisseurs Ridley Scott, der nicht immer ganz qualitätssicher zwischen Meisterwerken („Alien“, „Thelma & Louise“) und Blockbuster-Trash („Hannibal“, „Gladiator“) schwankt. „Blade Runner“ ist auch deshalb großartig, weil neben dem großen Ganzen auch jedes Detail beeindruckt. So sind praktisch alle Rollen exzellent besetzt, und besonders Rutger Hauer leistet hier eine Brando-Imitation die einen bedauern lässt, dass man den 2019 verstorbenen Holländer meist nur in B-Ware zu sehen bekam. Daneben schwelgt „Blade Runner“ geradezu in markanten Bildern. Die Megalopolis, in der es immer Nacht zu sein scheint und immer regnet, mit ihren bizarren Hochhäusern in Form aztekischer Pyramiden, ist natürlich eine direkte Verwandte von Fritz Langs Ur-Moloch „Metropolis“. Typische früh-80er New Wave und Neon Ästhetik gibt es zuhauf, und Daryl Hannah sieht ein bisschen aus wie die kleine Schwester von Hazel O’Connor oder Siouxsie. Im Tyrell-Büro dagegen geht es zu wie in der Reichskanzlei oder in Mussolinis Rom, hier dominiert eine überspitzte 30er Faschismus-Ästhetik, bis hin zur Frisur und Kleidung von Rachel - bei dem Übermenschen-Thema sicher nicht ganz zufällig.

In seiner Diszipliniertheit und Detailversessenheit könnte „Blade Runner“ beinahe von Kubrick stammen, tatsächlich war er erst die dritte vollwertige Regiearbeit von Scott. Ein Grund, weshalb der Film noch heute so fasziniert liegt sicherlich in der Art, wie er seinen Stoff eben nicht trivialisiert. Man stelle sich vor, Spielberg oder irgendein anderer Blockbuster-Regisseur (vielleicht sogar Scott selbst) würde den Stoff heute verfilmen. Das Resultat böte ohne Zweifel jede Menge Dröhnästhetik, zentnerschwere Donnermusik nonstop und eine Gut-und-Böse-Struktur, die ein Dreijähriger nach zehn Minuten durchschaut hätte. Damit ist „Blade Runner“ ein Relikt aus Zeiten, bevor das Blockbuster-Syndrom noch jeden Mainstreamfilm aus Hollywood infizierte und eine halbwegs intelligent erzählte Geschichte zur Mangelware wurde.

(10/10)

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